Carsten Rentzing – Ein Versuch ihn zu verstehen

Es ist ruhig geworden um den vor einem halben Jahr in sein Amt gewählten Bischof der sächsischen Landeskirche Carsten Rentzing. Kurz nach seiner Wahl zog er mit einem Interview mit der „Welt“ über die Grenzen seiner Landeskirche hinweg Aufmerksamkeit auf sich, besonders wegen seiner Meinung, eine homosexuelle Lebensweise entspräche „nicht dem Willen Gottes“.

Es gab daraufhin deutlich formulierten Widerspruch aus der sächsischen Pfarrerschaft und auch hier auf theologiestudierende.de. Im August 2015 fand Carsten Rentzing Erwähnung in einem Artikel von Stefan Schirmer in der „Zeit“. Weil er sich uneindeutig zu Pegida geäußert hatte und konservative Positionen vertritt, sei er Teil einer allgemeinen Welle von „Hass, Extremismus und Abschottung in Sachsen“, die der Autor wahrzunehmen meinte.

Man tut Rentzing jedoch in meinen Augen unrecht, ihn im politisch rechten Spektrum zu verorten. Die Kirchenleitung der EvLKS hat auch unter Rentzing stets zumindest verbal gegen fremdenfeindlichen Populismus Stellung bezogen.1 So sagte Carsten Rentzing Weihnachten 2015 vor der Frauenkirche in Dresden:

Wir werden als Kirche Jesu Christi nicht stumm danebenstehen, wenn geistige Brandstifter durch unser Land ziehen und eine Stimmung des Unfriedens und der Unversöhnlichkeit sich ausbreitet. Wir werden Lichter der Menschlichkeit entzünden, wir werden den Ruf des Friedens und der Versöhnung dagegensetzen und immer wieder ertönen lassen.

Was jedoch bleibt, ist Rentzings entschiedene Meinung, dass eine homosexuelle Lebensweise nicht dem „Willen Gottes“ entspräche. Diese sei allerdings nicht als moralische Position zu verstehen, sondern als eine in erster Linie theologische: Rentzing betonte bereits im „Welt“-Interview, dass er „überhaupt nichts“ gegen homosexuelle Menschen habe. Seine Behauptungen verstand er als nur auf die kirchliche Binnenperspektive bezogen.

Eine theologische Position verdient es, auch auf theologischer Ebene betrachtet zu werden. Dieser Text soll ein Versuch sein, Carsten Rentzing und seine Aussagen zum Willen Gottes nachzuvollziehen und kritisch einzuschätzen.

Vom Willen Gottes – Interview mit Idea & Welt

Eine theologische Auswertung der Interviews mit Rentzing in der „Welt“ und in Idea Spektrum erweist sich als recht unergiebig. Seine Kernthese im „Welt“-Interview lautet, dass „[d]ie Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht“. Mit der Öffnung evangelischer Pfarrhäuser für homosexuelle Paare würde „die Kirche das Signal setzen, dass Homosexualität aus Gottes Sicht in Ordnung wäre“ und damit über die Aussagen der Bibel hinaus gehen. Denn man könne „auf der Basis der Bibel nicht erklären […], Homosexualität sei vor Gott in Ordnung.“ Rentzing trifft hier ein Negativurteil: Eine homosexuelle Lebensweise lasse sich „auf der Basis der Bibel“ nicht als „vor Gott in Ordnung“ und „Gottes Willen [entsprechend]“ erklären; eine solche Erklärung hätte „vor dem Wort der Bibel keinen Bestand“. Deshalb, aufgrund des Schweigens der Bibel, verbietet sich der Kirche aus Sicht Rentzings eine solche Erklärung oder ein derartiges „Signal“.

Auffällig ist, dass Rentzing also nicht aufgrund homosexualitätskritischer Aussagen der Bibel zu seinem Ergebnis kommt, sondern aufgrund des Mangels an positiven Aussagen zu homosexuellen Lebensweisen.

Weiterhin erwähnenswert ist Rentzings Differenzierung zwischen „Wort Gottes“ und „vor Gott in Ordnung“. Der Wille Gottes erschließt sich ihm (zumindest in dieser Frage) eindeutig aus der Bibel.2 Jedoch verweigert Rentzing die direkte Übertragung des Willen Gottes auf eine normative Aussage („vor Gott in Ordnung“). Dies wäre eine „Definition“ des Willens Gottes, die ihm nicht zustehe.3 Der hermeneutische Ansatz Rentzings, durch den der Wille Gottes aus der Bibel direkt benennbar, jedoch nicht „definierbar“ wird, wird im Interview nicht genauer ausgeführt. Ich vermute dahinter den Versuch, einen Unterschied zu machen zwischen für die kirchliche Verkündigung bindende Aussagen der Schrift („Wille Gottes“) und daraus abgeleiteten moralischen Maßstäben („vor Gott in Ordnung“ und die Rede von „Sünde“). Es bleibt in meinen Augen eine gewisse Widersprüchlichkeit in Bezug auf die Frage, ob der Wille Gottes nun eindeutig aus der Schrift erkennbar ist oder nicht. Dies mag der spontanen, mündlichen Natur eines Interviews geschuldet sein, von einem promovierten Bischofskandidat ließe sich dennoch mehr Präzision erwarten.

In seinem noch vor dem „Welt“-Interview erschienenen Interview mit Matthias Pankau für die evangelikale Zeitschrift Idea Spektrum betont Rentzing ebenfalls zunächst, dass für ihn Homosexualität kein moralisches, sondern ein hermeneutisches Problem sei: Was könne die Kirche zu dem Thema sagen? Eine Öffnung evangelischer Pfarrhäuser würde „die Grenze dessen, was [die Kirche] zu diesem Thema sagen kann, weit überschreiten“. Auch hier findet also zunächst eine Negativbestimmung statt: Rentzing könne „keine biblische oder theologische Verheißung erkennen, nach der wir als Kirche den Auftrag hätten, gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen.“ Deshalb lehnt er das gemeinsame Leben solcher Paare in einem Pfarrhaus entschieden ab.4

Nun ließe sich auf den Einwand Rentzings, er sehe „keine biblische […] Verheißung“ für die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, leicht erwidern, dass es ihm möglicherweise lediglich an Kenntnis oder Phantasie fehle, entsprechende Bibelstellen entsprechend auszulegen. Die entscheidende Frage ist also die nach Rentzings hermeneutischen Ansatz.

Die „Kirchliche Auslegung“ – Das Rentzing’sche Schriftprinzip

Wie kam Carsten Rentzing also zu seinem Spitzensatz, „[d]ie Bibel“ sage, „dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht“? Auf der Suche nach Informationen zu Rentzings hermeneutischen Ansatz stieß ich auf diesen äußerst passenden Vortrag5 Rentzings aus dem Jahr 2013 zum Thema „Wie legen wir praktisch die Heilige Schrift aus?“.

In diesem an der Leipziger Theologischen Fakultät gehaltenen Vortrag entfaltet Rentzing aus den lutherischen Bekenntnisschriften „vier Kriterien für die Schriftauslegungen der lutherischen Kirchengemeinschaft“. Denn es seien „diese Bekenntnisse, die einen gemeinsamen Zugang [der Kirche] zur heiligen Schrift überhaupt erst ermöglichen.“

Das erste Kriterium Rentzings ist demnach das „Sola Scriptura“: Nach Rentzing ist für die kirchliche Hermeneutik dabei die Wahrnehmung des in der Konkordienformel bezeugten „Gefälles zwischen Wort und Mensch“ entscheidend. Alle anderen Quellen von Erkenntnis, besonders der Mensch selbst, müssen sich „im Zweifel auch durch die Schrift korrigieren lassen“.

Auch im Weiteren hält sich Rentzing eng an Luther und erhebt die „Unterscheidung von Gesetz und Evangelium“ zum zweiten Kriterium der kirchlichen Schriftauslegung. Wichtig ist für Rentzing dabei vor allem, den triplex usus legis (Spiegel, Riegel und Regel) des Gesetzes nicht zu vergessen. „Wenn du anfängst, ein reines Evangelium ohne Gesetz zu verkündigen, verkündigst du gar kein Evangelium mehr“, so Rentzing.

Drittes Kriterium nach Rentzing ist die „Kanonizität der Auslegung“: Er wendet sich besonders gegen eine Absolutsetzung der biblischen Textkritik („Der kanonische Text in seiner heutigen Gestalt ist heute heilige Schrift.“) und fordert die Berücksichtigung von Neuem und Altem Testament, in denen sich „Aufhebungen und Verstärkungen“ finden, die beachtet werden müssen.

Als viertes Kriterium nennt Rentzing den sogenannten „magnus consensus“, den er als die geistgewirkte, dauerhafte Übereinstimmung der Kirche in Glaubensfragen definiert. Eine Bibelhermeneutik, die sich vom magnus consensus der Weltkirche entferne, sei dieser Rechenschaft schuldig. „Eigentlich kann sich keine Landeskirche leisten, ohne Weiteres [vom magnus consensus] abzusehen“, so Rentzing.

Laut Carsten Rentzing darf sich eine offizielle, lutherische Bibelhermeneutik dieser vier Grundsätze nicht entziehen. Er schließt in einem beinahe apokalyptischen Tonfall: Das Verlassen dieser von ihm dargestellten „kirchlichen Auslegung“ drohe „die Kirche […] zu zerstören und hinterlässt allenfalls nur noch […] die Privatreligionen millionen Einzelner.“


Nun bin ich als Theologiestudent zumindest insofern Lutheraner, als dass ich es in Betracht ziehe, mich bei meiner Ordination den lutherischen Bekenntnissen zu verpflichten. Als solcher bin ich geneigt, den meisten Punkten in Carsten Rentzings Vortrag beizupflichten. Trotzdem komme ich in meiner lutherischen Hermeneutik an bestimmten Punkten zu diametral verschiedenen Ergebnissen. Woran kann das liegen?

Manche Aussagen Rentzings zur „kanonischen Auslegung“ bereiten mir Bauchschmerzen. Etwa, dass Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft über die priesterschriftliche Quellenschrift nicht maßgeblich für die kirchliche Auslegung dieser Stellen sein dürften. Denn wenn, wie Rentzing sagt, „der Blick auf’s Ganze“ für die Schriftauslegung wichtig ist, dann doch auch die historischen Hintergründe der Textgenese und die rekonstruierbaren theologischen Vorstellungen der Textverfasser. Beim verantwortungsvollen, schriftgemäßen Abwägen biblischer Aussagen ist es in meinen Augen an vielen Stellen unverzichtbar, historisch-kritische Argumente sehr schwer wiegen zu lassen.

Außerdem befremdlich finde ich, dass es das lutherische „was Christum treibet“ nicht in Rentzings Kanon der hermeneutischen Grundsätze geschafft hat. Dabei ist dieses Prinzip doch der zentrale hermeneutische Zugang der Reformatoren. Diese Auslassung lässt mich doch staunen über Rentzings Prioritäten.

Aber auch darin sehe ich nicht den Knackpunkt. Wirklich problematisch finde ich Rentzings breite Definition des magnus consensus als das, was überall von allen zu allen Zeiten geglaubt wurde. Rentzing scheint in seinem Vortrag anzudeuten, dass im Blick auf die Weltkirche eine Anerkennung homosexueller Lebensweisen eindeutig dem magnus consensus widerspreche. Damit hätte er zunächst natürlich recht; die überwiegende Mehrheit der Christen weltweit hält gelebte Homosexualität für nicht dem Willen Gottes gemäß. Aber das Gleiche gilt ebenso für die Ordination von Frauen in den Verkündigungsdienst. Damit eine lutherische Kirche ihre Lehre rechtfertigen kann, muss der Begriff des magnus consensus der lutherischen Bekenntnisschriften also deutlich enger gefasst werden. Genau in dieser Weise spricht sich selbst die VELKD „gegen jedwede Versuche einer methodisch geleiteten Operationalisierung des [magnus consensus] im Kontext kirchlicher und kirchenpolitischer Entscheidungsbildungsprozesse“ aus. Insofern scheint mir gemäß dem magnus consensus (zumindest der lutherischen Kirche in Deutschland) der magnus consensus nicht als Argument gegen eine Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften geeignet. Rentzing scheint hier anderer Meinung als die VELKD zu sein, der er selbst als stellvertretender Vizepräsident vorsitzt.

Fazit

Ich möchte zum Schluss noch einmal zu Rentzings Thesen vom Anfang zurückkommen. Er behauptet: „Die Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht.“ Schon ein kurzer Blick auf den Forschungsstand der evangelischen Theologie zeigt, dass zumindest der exegetische Teil dieser Behauptung hochproblematisch ist: Es lässt sich auf jeden Fall nicht mehr von einem eindeutigen Befund sprechen.6 Deshalb halte ich die Behauptung Rentzings, in dieser Frage ohne Weiteres eine Aussage über den Willen Gottes ziehen zu können, für unredlich.

Rentzing behauptet außerdem, eine homosexuelle Lebensweise lasse sich „auf der Basis der Bibel“ nicht als „vor Gott in Ordnung“ und „Gottes Willen [entsprechend]“ erklären; eine solche Erklärung hätte „vor dem Wort der Bibel keinen Bestand“. Das scheint ebenfalls eine zumindest sehr gewagte These. In Gen 2,18 heißt es:

Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber.

In diesem Text aus dem zweiten Schöpfungsbericht wird die Aufeinanderbezogenheit des Menschen thematisiert. Die Zweigeschlechtlichkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle (wie 2,19f zeigt), vielmehr wird der Gemeinschaftsaspekt betont. Der „Schöpfungswille Gottes“ scheint mir an dieser Stelle sehr eindeutig ausgedrückt: Kein Mensch soll alleine bleiben müssen. Dürfen wir als Kirche homosexuelle und andere Menschen, für die eine unterschiedlich-geschlechtliche Partnerschaft nicht in Frage kommt, von diesem Schöpfungswillen Gottes willentlich ausschließen?

Es ist eine Sache, derartige Erklärungsversuche anzuzweifeln. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, wie Carsten Rentzing zu behaupten, eine kirchliche Nichtanerkennung homosexueller Partnerschaften ergebe sich zwingend aus der Anwendung der lutherischen Bekenntnisschriften auf die Heilige Schrift.

Aus seelsorgerlicher Perspektive möchte ich noch hinzufügen, dass Carsten Rentzing mit seinen Aussagen zur Homosexualität potentiell großen Schaden angerichtet hat. Auch wenn er sich mehrfach ausdrücklich vom einer moralischen Bewertung zu distanzieren versuchte, sind derartige öffentliche Spekulationen über den Willen Gottes in Bezug auf die geschlechtliche Identität einer Gruppe von Menschen seelsorgerlich mindestens fahrlässig. Der Hinweis, eine solche Verurteilung sei irgendwie nur ekklesiologisch und nicht moralisch gemeint, ist dabei wenig hilfreich.


Carsten Rentzings Schriftverständnis verortet sich in der Tradition der lutherischen Bekenntnisschriften: Er versteht sich als kerniger Lutheraner, wie es für den Bischof einer lutherischen Kirche nicht völlig unangemessen ist. Ich freue mich darüber, wie er seine Amtszeit bisher genutzt hat, um – auch mal gegen den EKD-Mainstream – lutherische Positionen stark zu machen und zu fördern. Sehr durchdacht und trotzdem entschieden äußerte er sich beispielsweise in diesem späteren Idea-Interview. Besonders in seinen äußerungen in Bezug auf Homosexualität ist er auffällig zurückhaltend geworden. Und in seinem ersten Bericht vor der sächsischen Synode schlägt er einen nachdenklichen, gar demütigen Tonfall an.

Dass er noch vor dem offiziellen Beginn seiner Amtszeit sein Anliegen, die sächsische Landeskirche zusammenzuhalten, mit seinen radikalen, unausgegorenen äußerungen der Interviews mit „Welt“ und Idea derart torpedierte, ist bedauerlich. Trotzdem scheint Carsten Rentzing nun auf einem guten Weg, der richtige Bischof für die momentane Situation der EvLKS zu werden – einer, der die Fronten zumindest zusammenhalten kann.

Langfristig bleibt mein Wunsch für meine Landeskirche jedoch, dass sie diese Phase der Uneinigkeit überwindet und sich in Sachen Gleichstellung dem magnus consensus der deutschen evangelischen Landeskirchen anschließt – aber nicht wegen des magnus consensus, sondern weil es christusgemäß ist. Und ich wünsche ihr einen Bischof, der offen ist, diese Entwicklung zu begleiten.

  1. Wenn auch kritisierbar bleibt, dass sich die sächsische Kirchenleitung bisher weigert, in ihren Stellungnahmen gegen Fremdenhass Pegida und AfD auch beim Namen zu nennen. 

  2. Rentzing: „Die Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht.“ 

  3. Rentzing: „Ich maße mir nicht an, Gottes Willen zu definieren.“ 

  4. Idea: „Sie bleiben also bei Ihrer Ablehnung?“ Rentzing: „Aus den genannten theologischen Gründen, ja!“ 

  5. Der Link scheint inzwischen leider offline zu sein, ich kann die Aufzeichnung jedoch gern auf Nachfrage weitergeben. 

  6. An einer exegetischen Untersuchung von Römer 1,26f habe ich mich auf meinem Blog versucht.