Gelesen: Der Koran

Ein Gespräch mit selbsternannten Islam-Kritikern führt beinahe unausweichlich zum Koran. „Hast du mal den Koran gelesen?“, wird mir an den Kopf geworfen. Und das ist natürlich ein gutes Argument. Natürlich hab ich den Koran nicht gelesen, wie die allermeisten Nicht-Muslime in Deutschland.1 Anfang dieses Jahres habe ich mir vorgenommen, diesen Misstand zu beseitigen und den Koran zu lesen – jeden Tag ein Stück.

In diesem Artikel will ich meine Eindrücke schildern. Gelesen habe ich den Koran als interessierter christlicher Theologe, ich werde deshalb häufiger Vergleiche zur Bibel ziehen und auf der anderen Seite viele Dinge übersehen, die für Muslime von großer Wichtigkeit sind. Meine Lesart beansprucht weder Vollständigkeit, noch kann sie der innermuslimischen Sicht auf den Koran als heiliges Buch komplett gerecht werden. Dieser Text ist vielmehr das äquivalent zum Zeh-ins-Wasser-Stecken in der Begegnung mit dem Islam.2

Große Mose-Fans auf der Wasserrutsche

Der Koran liest sich wie eine Wasserrutsche: Die 114 Kapitel („Suren“) sind traditionell grob der Länge nach sortiert. Frühe Kapitel sind hunderte Verse lang und ein Büchlein für sich; die späteren Suren nehmen dann zunehmend Fahrt auf und die letzten Abschnitte passen jeweils auf eine Seite.

Die Grundaussage des Koran ist überraschend einheitlich und leicht verständlich. Es wird wiederholt eingetrichtert, was Muslim sein bedeut: An Allah3 glauben, das Gebet verrichten und die Armensteuer entrichten.4 Im Gegenzug werden die „Ungläubigen“ heftig kritisiert. Sie sind die Feinde Gottes, ihre gerechte Strafe wird sie nach dem Tod in der Hölle ereilen.

Gott wird charakterisiert als weise, gerecht und gütig; als Beschützer der Gläubigen. Und vor allem als barmherzig. Fast jede Sure beginnt mit dem Vers „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen.“ Das Gott die Gottlosen straft, wird nicht als Grausamkeit, sondern als Gerechtigkeitsausgleich verstanden. Als parallele drängt sich das alttestamentliche Tat-Folge-Prinzip auf.

Häufiger hatte ich eine Art „deja-vú“-Erfahrung, als hätte ich das Gleiche vor kurzem erst gelesen. Im Koran werden bestimmte Geschichten immer wieder erzählt, bestimmte theologische Pointen immmer wieder eingeschärft. Besonderes Highlight für mich als christlichen Theologen ist das ursprünglich biblische Material: Ständig werden biblische Geschichten auf eigentümliche Weise nacherzählt. Besonders die Moseerzählung hatte es Mohammed anscheinend angetan. Die Geschichte von Mose und den Zauberern des Pharao wird immer und immer wieder erzählt.

Die alttestamentlichen Geschichten dienen dem Koran als Lehrerzählungen. Sie dienen der Beweisführungen der Treue Gottes, und der Unausweichlichkeit des Schicksals der Gottlosen und Übeltäter.

Sadschʿ – Der Poetry-Slam des 7. Jahrhunderts!

Auch formell drängen sich Vergleiche zum Alten Testament auf. Der Text klingt oft wie aus den Psalmen, dann wieder wie Weisheitsliteratur oder prophetische Sozialkritik. Für das ungeübte Auge wären viele Verse und ganze Abschnitte nicht von Bibeltext zu unterscheiden.

Das hat mich überrascht, dürfte es doch eigentlich so gut wie keine kulturellen Überschneidungen zwischen den Autoren des Alten Testaments und dem Arabien des 7. Jahrhundert geben. Ich vermute deshalb, dass die stilistischen ähnlichkeiten auf die deutsche Übersetzung zurückzuführen ist. Für den Koran gibt es im Internet mehrere kostenlose oder sehr günstige Koranübersetzungen auf Deutsch. Die meisten davon sind aus der Zeit um 1900 und lesen sich entsprechend holprig. Dass die Sprache entfernt an die alte Lutherübersetzung erinnert, ist also kein Zufall.5

Der Koran eignet sich eigentlich überhaupt nicht zum Übersetzen. Zum einen sieht die traditionelle muslimische Lehre Koranübersetzungen nicht vor. Wegen der strengen Verbalinspirationslehre gilt nur der arabische Urtext als gültiges Wort Gottes. Außerdem ist der Koran fast durchgängig ein einer speziellen Reimform verfasst, dem sogenannten Sadschʿ. Es gibt Übersetzungen, die dieses Reimschema (auf Kosten der inhaltlichen Genauigkeit) ins Deutsche zu übertragen versuchen. Das klingt dann zum Beispiel so:6

Trag vor in des Herren Namen,
Der euch schuf aus blutigem Samen!
Trag vor! Er ist der Geehrte,
Der mit dem Schreibrohr lehrte,
Was noch kein Menschenohr hörte.
Doch der Mensch ist störrischer Art,
Nicht achtend, daß Er ihn gewahrt.
Doch zu Gott führt einst die Fahrt.

Da kann man verstehen, warum Orientalisten den Koran ein „sprachliches Kunstwerk besonderer Art“ nennen, und warum traditionellerweise die arabische Lektüre empfohlen wird. Das liest sich wie ein moderner Poetry-Slam (und selbst die zitierte Übersetzung stammt aus dem 19. Jahrhundert)!

„Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt“ – Das Kontroverse

Zum Schluss muss ich natürlich auf die berühmten Gewalt-Verse eingehen. Denn wenn auch kaum ein deutscher Nichtmuslim den Koran je gelesen hat – dass es da ganz gewalttätig drin zugeht ist quasi Allgemeinwissen.

Und ja, es gibt diese Stellen. Es sind wenige und sie sind weit verstreut. Man zuckt schon etwas zusammen, wenn man liest:

Und bekämpft in Allahs Pfad, wer euch bekämpft; doch übertretet nicht; siehe, Allah liebt nicht die Übertreter.
Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Totschlag. Bekämpft sie jedoch nicht bei der heiligen Moschee, es sei denn, sie bekämpften euch in ihr. Greifen sie euch jedoch an, dann schlagt sie tot. Also ist der Lohn der Ungläubigen. (Sure 2,186)

Der Koran enthält außerdem zahlreiche Versicherungen, dass Gott die Ungläubigen strafen wird, dass sie nicht ins Paradies kommen werden. Das Wir-Die-Schema ist unverkennbar. Besonders Christen kommen im Koran schlecht weg, weil sie aus dessen Perspektive mit ihrer Trinitätslehre Vielgötterei betreiben.

Trotzdem kann ich als christlicher Theologie nicht zum Schluss kommen, der Koran rufe zur Gewalt auf oder habe Gewalttätigkeit gar als Fundament. Die Stellen, die zur Gewalt aufrufen, sind jedesmal klar historisch einzuordnen, oft wird an Verfolgungs- und Kriegssituationen angespielt. Auch hier sind die Parallelen zum Alten Testament unübersehbar, wo es auch Aufrufe zur Gewalt gibt. Garstigere noch als die des Koran. Hier wie da ist klar, dass diese Stellen in einen historischen Rahmen gehören und nur von daher zu verstehen sind.

Natürlich, der Koran kann mit Christen und Juden nicht viel anfangen, sein Ziel ist die Definition einer eigenen Religionsgemeinschaft. Aber eine systematische Feindschaft mit Andersgläubigen wird in meinen Augen im Koran nicht begründet. Der Koran kann nämlich auch ganz laizistisch, wenn es etwa in Sure 109 heißt:

Sag: O ihr Ungläubigen,
ich diene nicht dem, dem ihr dient,
und ihr dient nicht Dem, Dem ich diene.
Und ich werde (auch) nicht dem dienen, dem ihr gedient habt,
Und ihr werdet nicht Dem dienen, Dem ich diene.
Euch eure Religion und mir meine Religion.

Und in Sure 2,59 geht die Akzeptanz von Juden und Christen („Nazarener“) sogar noch weiter:

Siehe sie, die da glauben, und die Juden und die Nazarener und die Sabier – wer immer an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und Furcht kommt nicht über sie, und nicht werden sie traurig sein.


Insgesamt wird also im Koran bei weitem nicht so heiß gegessen wie gekocht. Ich halte den Koran für eine recht vernünftige heilige Schrift. Ich bin schlussendlich sogar geneigt, nach meiner Lektüre eine Art ökumenischen Geist im Koran auszumachen. Der Koran fordert, Gott allein zu verehren, mit ihm in Beziehung zu treten und sich um Schwächere zu kümmern. Da kann ich als Christ ohne Weiteres mitgehen (ich muss sogar!). Natürlich sind dem Koran viele Dinge fremd, die für christliche Theologie wichtig sind – keine Spur einer Rechtfertigungslehre, keine Christologie. Aber diese Dinge sind dem Judentum, unserer engsten Schwesterreligion, ebenso unbekannt.

Am Ende aber bleibt auch bei mir ein gewisser Abstand, eine Fremdheit. Die Kultur des Koran könnte meiner (und der der Bibel) kaum Fremder sein. Die meisten Verse bleiben für mich rätselhaft. Aber wenn jemand bereit ist, Berührungsängste mit dem Islam abzubauen, ist ein bisschen Koranlektüre ein guter Anfang.

  1. Es ist ja schon erstaunlich, wenn jemand aus dem „christlichen Abendland“ die Bibel durchgelesen hat. 

  2. Gelesen habe ich die Übersetzung von Max Henning, anno 1901. 

  3. Es ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass das arabische Wort „Allah“ nichts anderes heißt als „Gott“. Auch arabischsprachige Christen sprechen Gott selbstverständlich mit „Allah“ an. 

  4. Die Pilgerfahrt nach Mekka und das Fasten am Ramadan, die die fünf Säulen komplettieren werden auch erwähnt, aber nicht so häufig. 

  5. Über die schlechte Qualität deutscher Koranübersetzungen hat sich übrigens auch schon Martin Luther beschwert – aber das ist eine Geschichte für einen anderen Artikel. 

  6. Sure 96 Nach der Übersetzung von Hubert Grimme, aus de.wikipedia.org/wiki/Sadsch